Neulich im Betrieb:
Der Azubi hatte trotz Freistellung, ernster Ansage und Fristsetzung immer noch nicht die korrekten Entwurfszeichnungen für das Gesellenstück fertig. Und damit stand nach einem Jahr Schule und zwei Jahren im Betrieb die Zulassung zur Prüfung, und damit das Ziel jeder Gesellenausbildung, auf dem Spiel.
Das war der vorläufige Schlusspunkt nach einer wochenlangen Serie aus Erinnerungen, Nachfragen und Ermahnungen.
Was zuviel war, war zuviel, so bekam der Gatte Schnappatmung und ein rotes Gesicht, und ich gönnte mir gegenüber dem Unglücksraben einen Wutanfall erster Güte und das Wort zum Montag.
Mitten in meiner Tirade gelang es mir in einem Moment der Besinnung zu fragen, warum er denn die Zeichungen nicht gemacht hatte.
Ergebnis: Der Azubi hat zuhause schlicht keine Ruhe zum Zeichnen!
Nachdem dann meine erste Wut vorbei war, bot ich dem Azubi an, die Zeichnungen bei uns privat zu machen, denn dort hat er die nötige Ruhe (das gilt allerdings nur für Azubis, nicht für Tischlerfrauen).
Das Angebot wurde angenommen und tatsächlich wurde von ihm wie entfesselt an den Zeichnungen gearbeitet – bis 20.30 Uhr, und das nach einem regulären Arbeitstag! Das Zeichnen ging dem Azubi dabei so gut von der Hand, dass man den Eindruck bekommen konnte, dass er nur auf so eine Chance gewartet hatte. Schlussendlich war alles somit doch noch bis zum Abgabetermin fertig, und zwar in unerwartet guter Qualität. Und unser aller Blutdruck konnte wieder auf normale Werte zurückfallen.
Wir haben nach diesem Gewaltritt gemeinsam mit dem jungen Mann beschlossen, dass er auch die endgültigen Zeichnungen bei uns fertigen darf, aber dann ohne Termindruck und zeitliche Gewalttouren.
Was lernen wir daraus?
- Wenn ein Azubi nicht nach den Vorstellungen der Ausbilder lernt oder arbeitet, ist das nicht unbedingt Faulheit oder Ignoranz.
- Auch, wenn man einem Azubi noch so oft sagt, dass er sich bei Problemen an den Ausbilder wenden soll, traut er sich deswegen noch lange nicht.
- Es sind vielmehr immer wieder Gespräche nötig. Ausbildungsarbeit kann ein Knochenjob sein.
- Und ja, das alles weiß man als Ausbilder.
- Und ja, man muss es sich trotzdem immer wieder in sein eigenes Bewusstsein rufen.
Ich bin jedenfalls immer noch perplex über die unerwartete Entwicklung von Motivation und Arbeitsqualität, wenn man ersteinmal weiß, wo genau das Problem liegt.
…aber sollte irgendwann herauskommen, dass der Schreibtisch des Azubis zuhause einfach nur voll lag und der junge Mann zu faul zum Aufräumen war, verbrenne ich persönlich jede einzelne Zeichnung…